EuGH Insolvenzrecht ist europaweit durchzuführen

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Der europäische Gerichtshof stellt die Tragweite der Rechtsvorschriften über die Anerkennung der Entscheidungen im Zusammenhang mit Insolvenzverfahren durch die Mitgliedstaaten klar

EuGH Insolvenzrecht ist europaweit durchzuführen

Der europäische Gerichtshof stellt die Tragweite der Rechtsvorschriften über die Anerkennung der Entscheidungen im Zusammenhang mit Insolvenzverfahren durch die Mitgliedstaaten klar.

 

Nach Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat sind die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats grundsätzlich verpflichtet, alle Entscheidungen im Zusammenhang mit diesem Verfahren anzuerkennen und zu vollstrecken.

 

Der aktuelle Fall: MG Probud, ein Bauunternehmen mit Gesellschaftssitz in Polen, führte im Rahmen der Tätigkeiten einer Zweigniederlassung Bauarbeiten in Deutschland durch. Im Jahr 2005 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen dieses Unternehmens durch ein polnisches Gericht eröffnet.

 

In einem Verfahren, das das Hauptzollamt Saarbrücken wegen des Verdachts gegen den Leiter der deutschen Zweigniederlassung von MG Probud, unter Verstoß gegen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz mehreren polnischen Arbeitnehmern kein Gehalt gezahlt und die entsprechenden Sozialabgaben nicht abgeführt zu haben, betrieben hatte, ordnete das Amtsgericht Saarbrücken den dinglichen Arrest über Bankguthaben des Unternehmens in Höhe von 50.683,08 Euro sowie die Pfändung verschiedener Forderungen an, die das Unternehmen gegen deutsche Vertragspartner hatte.

 

Im Rahmen des Insolvenzverfahrens hat das Sąd Rejonowy Gdańsk Północ w Gdańsku (erstinstanzliches Gericht in Danzig, Polen) die Frage aufgeworfen, ob die von den deutschen Behörden vorgenommenen Pfändungen rechtmäßig seien, da das polnische Recht, das auf dieses Verfahren anwendbar sei, weil die Republik Polen der Staat der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei, solche Pfändungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr zulasse. In diesem Zusammenhang hat dieses Gericht den Gerichtshof gefragt, ob nach der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats berechtigt sind, nach ihrem Recht zum einen die Pfändung von im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats befindlichen Vermögenswerten des Schuldners, über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, anzuordnen und zum anderen sich zu weigern, die Entscheidungen über die Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens, das im ersten Mitgliedstaat eröffnet worden ist, anzuerkennen und gegebenenfalls zu vollstrecken.

 

Die Entscheidung: Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass die Gemeinschaftsverordnung1 zwei Arten von Insolvenzverfahren vorsieht. Das Insolvenzverfahren, das vom zuständigen Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, eröffnet wird und das sogenannte „Hauptinsolvenzverfahren“ ist, hat universale Wirkungen, da es sich auf das Vermögen des Schuldners erstreckt, das sich in allen Mitgliedstaaten befindet, in denen die Verordnung anwendbar ist. Zwar kann später vom zuständigen Gericht eines Mitgliedstaats, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, ein Verfahren eröffnet werden, doch sind die Wirkungen dieses so genannten „Sekundärinsolvenzverfahrens“ auf das im Gebiet dieses Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Somit kann die universale Geltung des Hauptinsolvenzverfahrens nur durch die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens beschränkt werden.

 

Sodann führt der Gerichtshof aus, dass die Entscheidung über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt wird, sobald sie im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist, und dass sie, ohne dass es hierfür irgendwelcher Förmlichkeiten bedürfte, in jedem anderen Mitgliedstaat die Wirkungen entfaltet, die das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung dem Verfahren beilegt. Die Anerkennung aller anderen Entscheidungen als der über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt ebenfalls automatisch.

 

In Bezug auf die Vollstreckung von Entscheidungen im Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren hebt der Gerichtshof hervor, dass es nach der Gemeinschaftsverordnung nur zwei Nichtanerkennungsgründe gibt. Zum einen sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, eine Entscheidung zur Durchführung oder Beendigung eines Insolvenzverfahrens anzuerkennen, die eine Einschränkung der persönlichen Freiheit oder des Postgeheimnisses zur Folge hätte. Zum anderen kann sich jeder Mitgliedstaat weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit diese Anerkennung oder diese Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist.

 

Das in Polen eröffnete Insolvenzverfahren erstreckt sich wegen der universalen Geltung, die jedem Hauptinsolvenzverfahren zuzuerkennen ist, auf alle Vermögenswerte von MG Probud einschließlich der in Deutschland befindlichen, und nicht nur die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sondern auch dessen Durchführung und Beendigung unterliegen polnischem Recht. Aufgrund dessen richten sich das Schicksal des in den anderen Mitgliedstaaten befindlichen Vermögens und die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf die Maßnahmen, denen das Vermögen unterworfen werden kann, nach polnischem Recht. Da das polnische Gesetz über die Insolvenz und die Sanierung in der geänderten Fassung nicht zulässt, dass nach der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner Vollstreckungsverfahren in Bezug auf die Vermögenswerte eingeleitet werden, die zur Insolvenzmasse gehören, konnten die zuständigen deutschen Behörden nicht rechtswirksam Vollstreckungsmaßnahmen nach deutschem Recht in Bezug auf das in Deutschland befindliche Vermögen von MG Probud anordnen.

 

Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, dass nach der Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats, in dem kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet worden ist, grundsätzlich verpflichtet sind, alle Entscheidungen im Zusammenhang mit diesem Hauptinsolvenzverfahren anzuerkennen und zu vollstrecken, und daher nicht berechtigt sind, nach dem Recht des anderen Mitgliedstaats Vollstreckungsmaßnahmen in Bezug auf in diesem anderen Mitgliedstaat befindliche Vermögenswerte des Schuldners, über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, anzuordnen, wenn das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung dies nicht erlaubt.

 

1 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 603/2005 des Rates vom 12. April 2005 (ABl. L 100, S. 1) geänderten Fassung.

 

HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

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